U Urwald

Sonja Walch

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DOI

10.34663/9783945561126-22

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Walch, Sonja (2016). U Urwald. In: Wissen Macht Geschlecht: Ein ABC der transnationalen Zeitgeschichte. Berlin: Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften.

Im modernen Diskurs ruft der „Urwald“ die Vorstellung einer vom Menschen unberührten Landschaft hervor, in der die Natur besteht, wie sie einmal war: Ein prähistorisches Überbleibsel aus einer Zeit, in der unterschiedliche Pflanzen- und Tierarten koexistierten. Ökologen und Umweltschützer berufen sich auf das Konzept des Urwalds häufig im Rahmen eines Aufrufs einzugreifen, um die bedrohte Biodiversität von Eindringlingen zu schützen, üblicherweise von Holzfällern, Bauern, Viehzüchtern oder Jägern. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts repräsentierte der „Urwald“ jedoch eine andere Landschaft: unerschlossen und unwirtschaftlich, von armen, einfachen Menschen bewohnt, schien sowohl die Vegetation als auch die Bevölkerung auf den Eingriff westlicher Staaten und Wissenschaften angewiesen zu sein, um den vermeintlich notwendigen Schritt in Richtung Kultivierung machen zu können.

Diese Betrachtung wurde vor dem Hintergrund der territorialen Erweiterung der Vereinigten Staaten auf die Landschaften von Pazifikinseln übertragen – mit dem Unterschied, dass amerikanische Botaniker den „Urwald“ auch als einen „Dschungel“ verstanden. Im späten 18. Jahrhundert aus dem Sanskrit als jangala überliefert, bezeichnete dieser Begriff ein unebenes und wasserarmes Gelände. Die botanische Literatur des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts griff den „Dschungel“ als Charakterisierung von asiatischen Wäldern auf, wobei es sich in Verbindung mit kolonialbotanischen Interessen häufig um Nutzwälder aus Harthölzern handelte.

Gleichzeitig fand der Begriff in der populären Literatur eine breite Rezeption, etwa in Rudyard Kiplings Dschungelbuch. Berthold Brecht übertrug in seinem Drama Im Dickicht der Städte (Engl.: In the Jungle of Cities) den Mythos des Dschungels auf die Großstadt und griff dabei zeitgenössische Denkmuster zur sozialen Entfremdung und Vorstellungen zum Leben in Großstädten auf. Das Motiv des tropischen Dschungels spiegelt sich darin zum einen in seinen Akteuren wider, die aus dem Südpazifik nach Chicago versetzt werden und dort gewissermaßen ihren darwinistischen Überlebenskampf fortsetzten. Zum anderen projiziert Brecht Konzepte zum Lebensraum Dschungel auf urbane Räume und präsentiert eine Wirklichkeit, in der sich die Stadt als Ort des Chaos, aber auch der Transformation und einer inneren Erfahrung konstituiert.

Im Begriff „Dschungel“ verdichten sich überdies bis in unsere unmittelbare Gegenwart Assoziationen an eine undurchdringliche Wildnis im Sinne dessen, was David Arnold als „Tropikalität“ bezeichnete: einem Raum, dessen Landschaften, Klima und Bevölkerung fundamental „anders“ seien. Ganz gleich, ob das Tropische positiv (als paradiesischer Garten Eden) oder aber negativ (als Joseph Conrads düsterer Ort der Degradation) konnotiert wurde, es fungierte vielfach als Kontrastfolie zum Gemäßigten – zu allem, was als zivilisiert und kultiviert galt. In der tropenbotanischen Forschung verflochten sich diese Aspekte in der Auseinandersetzung mit der Vegetation einer konstruierten Tropenzone. In diesem Kontext bedeutete die im „Zeitalter der Erkundung“ vorgenommene Aufteilung der Welt in pflanzengeografische Regionen auch eine diametrale Organisation von Pflanzen in eine tropische und eine gemäßigte Flora.

Diese gegensätzliche Ordnung materialisierte sich in konkreten Räumen, etwa in dem als „Tropenhaus“ bezeichneten Palmen-Gewächshaus der Habsburger Sommerresidenz Schönbrunn. Das 1881 im botanischen Garten errichtete Palmenhaus zählte zur damaligen Zeit zu den größten seiner Art in Europa. Vor den Bombenangriffen des Jahres 1945 konnten zwar nur wenige Pflanzen gerettet werden, doch wurde das Gewächshaus um 1952 gärtnerisch neu gestaltet. Die Repräsentation tropischer Natur blieb im Vergleich zu Darstellungen des vorigen Jahrhunderts jedoch erstaunlich konstant: Temperiert durch eine Dampfwasserheizung stellt das Gebäude noch heute schillernd-auffällige Pflanzen zur Schau, die einen gewissermaßen „geordneten“ Dschungel suggerieren.

Die jüdische Botanikerin Mona Lisa Steiner, die 1938 von Wien nach Manila emigrierte, bezog sich zeitlebens auf ihre erste prägende Begegnung mit tropischen Pflanzen im Schönbrunner Gewächshaus. Das Palmenhaus fungierte in ihren Schilderungen gewissermaßen als Schablone, durch die sie die philippinische Vegetation betrachtete. Die Beschreibung der lokalen Vegetation als „Urwald“ oder tropischer „Dschungel“ kann darüber hinaus auch als ein Brückenschlag Steiners zu ihrer gemäßigten Heimat gelesen werden. Demgemäß wurde der „Urwald“ bis zu ihrer Remigration im Jahr 1960 sowohl zu einem Forschungsobjekt als auch zu einer Projektionsfläche der eigenen kulturellen Identität. Das Thema der Transformation spielte in beiden Bezügen eine zentrale Rolle: gemäß der Tropikalität der untersuchten Pflanzen verstand Steiner sich nunmehr als Tropenbotanikerin, die ihr Wissen dementsprechend neu ordnete.

Die schnelle Etablierung der amerikanischen Tropenbotanik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts fand ihren Ausgang in der eingangs erwähnten kolonialen Expansion der Vereinigten Staaten. Die Verwaltung der ozeanischen Territorien im Pazifikraum erforderte detailliertes Wissen, das die amerikanische Inselregierung in Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern und der lokalen Elite mobilisierte. Botaniker wurden in diesem Zusammenhang zu Agenten der amerikanischen Expansionspolitik, ihre spezifischen Interpretationsprozesse und Kulturpraktiken – wie die Klassifikation von Pflanzen oder die Beschreibung von Individuen und ihrer Beziehungen zueinander in Raum und Zeit – wurden zur Reflexion der lokalen sozialen und politischen Ordnung, die Ausdruck in Kategorien und Konzepten fand. So konzipierte etwa der amerikanische Tropenbotaniker Elmer D. Merrill gemeinsam mit dem Geologen Roy E. Dickerson eine pflanzengeografische Region zwischen den Philippinen und Australien – Wallacea –, das erstaunliche Parallelen zum zeitgenössischen amerikanischen Verständnis der Pazifikregion aufzeigt.

Wallacea bildete eine Raumeinheit zwischen Alfred Russel Wallaces indo- und austromalayischer Region, deren Flora zu beiden pflanzengeografischen Regionen gehörte, aber gleichzeitig nicht Teil von ihnen war. Darin ähnelte sie dem rechtlichen Status der Philippinen als „nichtinkorporiertes Territorium“ der Vereinigten Staaten, das zu ihnen gehörte, aber nicht Teil von ihnen war. Damit materialisierten sich im Konzept Wallacea vor dem Hintergrund der geopolitischen Verschiebungen im frühen 20. Jahrhundert gewissermaßen der Einflussbereich der Vereinigten Staaten und die Interessen Amerikas an der Nutzbarkeit des „Dschungels“ in den neuen tropischen Territorien im Pazifik.

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